EuGH erklärt Ausschlussfristen für das Stellen von Asylfolgeanträgen für unzulässig
Mit Urteil vom 9. September 2021 hat der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) einige Fragen beantwortet, die ihm der österreichische Verwaltungsgerichtshof bezüglich der Zulässigkeit von Asylfolgeverfahren gestellt hatte. Der EuGH entschied, dass Asylfolgeanträge queerer Antragsteller*innen nicht einfach deswegen als unzulässig abgelehnt werden können, weil diese sich nicht schon im Erstverfahren geoutet haben. Gleichzeitig haben die EU-Mitgliedstaaten aber laut EuGH das Recht, Regelungen einzuführen, um zu prüfen, ob nicht ein Verschulden seitens der Geflüchteten dafür vorliegt, dass sie die ihnen bereits im Erstverfahren bekannten Aspekte nicht dort schon angesprochen haben.
Damit bestätigt der EuGH das auch in Deutschland vorgesehene Verfahren, wonach Umstände, die im Erstantrag aufgrund groben Verschuldens nicht vorgetragen worden sind, im Folgeantrag nicht berücksichtigt werden können. Allerdings erteilte der Gerichtshof der Anwendung von Ausschlussfristen für das Stellen von Asylfolgeanträgen eine klare Absage. EU-Mitgliedstaaten dürfen von Asylsuchenden nicht verlangen, dass sie neue Informationen innerhalb einer bestimmten Frist vorbringen, die ab dem Zeitpunkt der Erlangung dieser Informationen zu laufen beginnt. Somit dürfen Asylbehörden und Gerichte Folgeanträge beispielsweise queerer Asylsuchender nicht mehr nur deswegen als unzulässig zurückweisen, weil sie diese innerhalb einer bestimmten Frist hätten stellen müssen. Die in Deutschland bislang nach § 51 Verwaltungsverfahrensgesetz (VwVfG) geltende Dreimonatsfrist ist damit für Asylfolgeanträge unzulässig.
Hintergrund der Vorlage des österreichischen Verwaltungsgerichtshofs an den EuGH war der Asylfolgeantrag eines irakischen Geflüchteten gewesen. Dieser hatte bereits im Juli 2015 einen ersten Asylantrag gestellt, sich jedoch in dem Verfahren nicht als schwul geoutet. Sein Erstantrag war daher im Januar 2018 abgewiesen worden. Im Dezember 2018 stellte er dann einen Asylfolgeantrag und führte diesmal als neuen Asylgrund an, dass er schwul sei und daher im Irak Verfolgung zu befürchten habe. Erst ab Juni 2018 sei ihm klar geworden, dass er sich in Österreich ohne Angst vor Verfolgung zu seiner Homosexualität bekennen könne. Im Januar 2019 wies das österreichische Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) seinen Folgeantrag jedoch als unzulässig zurück, worauf der Iraker Beschwerde vor dem österreichischen Bundesverwaltungsgericht (BVwG) einreichte, das diese jedoch im Wesentlichen ebenfalls abwies. Daraufhin erhob er Revision an den österreichischen Verwaltungsgerichtshof (VwGH) und argumentierte, die neue Tatsache bestehe nicht in der Homosexualität selbst, sondern in seiner nunmehr gegebenen Fähigkeit, diese zu artikulieren. Der VwGH wiederrum entschloss, das Verfahren auszusetzen und den EuGH zu fragen, welche Voraussetzungen für die Zulässigkeit eines solchen Asylfolgeantrags gegeben sein müssen.
Der EuGH stärkt in seinem Urteil vom 9. September 2021 die Rechte queerer Geflüchteter, die sich im Erstverfahren nicht geoutet haben, obwohl ihnen ihre sexuelle Orientierung bzw. geschlechtliche Identität bereits bekannt war. Ist ihr Asylverfahren endgültig negativ abgeschlossen, haben diese entsprechend dem Urteil des EuGH auch noch Monate und Jahre später die Chance, ein Folgeverfahren zu durchlaufen. Voraussetzung dafür ist, dass die Geflüchteten im Erstverfahren ohne Verschulden nicht in der Lage waren, ihre sexuelle oder geschlechtliche Identität als Fluchtgrund vorzutragen. Queere Geflüchtete, die sich im Erstverfahren aus Angst oder Scham nicht geoutet haben, sollten daher beim Antrag auf ein Folgeverfahren unbedingt herausstellen, inwiefern diese Angst und Scham ihnen das Vorbringen der wahren Asylgründe im Erstverfahren unmöglich gemacht haben. Da die überwiegende Mehrzahl der nach Deutschland Geflüchteten aus Ländern kommen, in denen queere Lebensweisen mehrheitlich als Verbrechen, Sünde, Krankheit oder Schande angesehen werden, ist davon auszugehen, dass sehr viele queere Geflüchtete im Erstverfahren überhaupt nicht dazu imstande sind, ihre sexuelle Orientierung oder geschlechtliche Identität vorzutragen.